Teil 2

Musik

Bass_klein_Kapitel4

Elastique Chix

Musikalisch gesehen war es eine spannende Zeit. Gerade in Hamburg. Es gab viele kleine Clubs, in denen immer Konzerte stattfanden und wo sich viele junge Bands ausprobierten oder versuchten zu etablieren. Es gab eine Menge Indie-Musik, eine wachsende Punk-Szene und die Neue Deutsche Welle steuerte auf ihre Hochphase zu.
Mitten in dieser musikalisch abwechslungsreichen Zeit kam ich mit meinem Bass nach Hamburg. Ich wohnte zunächst eine Zeit lang mit Berend und seiner Frau Joan in Winsen an der Luhe und pendelte jeden Tag nach Hamburg, weil ich dort als Assistenzfotograf arbeitete. Aber als die beiden bei Delmenhorst ein Haus bauten und aus Hamburg weggingen, zog ich in die Stadt. Ich wohnte kurzfristig bei Chris, einem Freund aus Kassler Tagen, der Geschäftsführer im Abaton-Kino war und zog dann in eine furchtbare Einzimmerwohnung in Wandsbek. Ich musste schnell etwas finden und hatte wenig Geld, aber zumindest wohnte ich jetzt in der Stadt, besuchte so viele Konzerte wie möglich und traf mich regelmäßig mit Leuten zum Musikmachen. 

Punk-is-Power-HH

Inzwischen hatte ich mir durch meine Arbeit ein wenig Geld zusammengespart und während ich weiter mit meinem Bass an allen möglichen Jam-Sessions teilnahm, zog ich in Hamburg ein zweites Mal um. Ich fand in Eimsbüttel eine Wohnung, in der sich allerdings schon zig Leute umsahen, als ich zur Besichtigung ankam. Klar, Eimsbüttel war ein schöner und ruhiger Stadtteil und Wohnungen hier waren sehr gefragt. Ich kam ein bisschen mit dem Vermieter ins Gespräch, einem alten Hamburger, der in einem Geschäft hinter dem Haus alle möglichen abstrusen Möbel verkaufte. 
»Tut mir Leid«, sagte er zu mir. »Die Wohnung hier ist schon weg. Aber wissen Sie was, Sie sind mir sympathisch. Schreiben Sie mir mal Ihre Adresse und Telefonnummer auf. Vielleicht finden wir ja was anderes Schönes für Sie.« 
Und tatsächlich rief er mich ein paar Wochen später an und fragte: »Ham Sie noch Interesse an ner Wohnung?« 
»Ja, klar!«, sagte ich. 
»Bei mir da wird wieder eine frei. Gucken Sie sich die doch mal an.« 
Ich schaute mir die Wohnung an und zack, machten wir einen Vertrag und peng, so zog ich in eine Zwei-Zimmer-Wohnung mit Küche, Bad und kleinem Balkon in Eimsbüttel. Das war super. Ich hatte endlich eine schöne Wohnung.

Kurze Zeit später kam Inge nach Hamburg, die ich noch aus der WG in der Goethestraße kannte und wohnte übergangsweise bei mir, um von dort aus nach einer eigenen Wohnung zu suchen. Inge war selbst in der Punk-Szene zu Gange, die gerade in Hamburg aufkam und ich traf über sie einige Leute. Ich lernte FM Einheit von Einstürzende Neubauten kennen und unter anderem auch Jäki Eldorado, der in der Nina Hagen Band Bass spielte. Er war mit ihr so naja... Wie soll man sagen? Liiert wäre übertrieben (lacht). Jäki Eldorado war auch ein vollkommen durchgeknallter Vogel. Er erreichte vor allem dadurch zweifelhafte Berühmtheit, dass er Iggy Pop bei einem Konzert in der Hamburger Markthalle ins Bein gebissen haben sollte. Zumindest hatten das die Boulevardblätter getitelt und auch weil Jäki grinsend dazu schwieg, hielt sich das Gerücht über Jahre. Obwohl er ihm tatsächlich wohl nur über den Oberschenkel geleckt hatte. Später wurde Jäki dann der Tour-Manager von Robbie Williams.

ich-1980_Hamburg

Ich versuchte es Jäki Eldorado zumindest insofern gleichzutun, dass ich mit meinem Bass etwas Festeres machen wollte, als immer nur Jam-Sessions zu spielen. Als ich eines Abends in einer der Musikkneipen Hamburgs unterwegs war, hing da ein Zettel, der mir sofort ins Auge sprang: „Bassist gesucht für Modern Life Jive". Daheim in Eimsbüttel rief ich unter der Telefonnummer an, die auf dem Zettel hinterlassen war und lernte so Andy Gorbino kennen, der nicht weit weg von mir wohnte. 
»Ich hab gesehen, dass ihr einen Bassisten sucht und dachte das klingt doch ganz gut«, sagte ich, als er mich zu sich nach Hause einlud. 
»Ja, ganz richtig gesehen«, lachte Andy »Sag bloß du spielst Bass?«. 
Andy hatte eine sehr freundliche und ruhige Art, die mir auf Anhieb sympathisch war. 
»So wie es der Zufall will«, grinste ich. 
»Pass auf, ich spiel dir einfach mal vor, was wir so machen«, schlug Andy vor und startete ein Tonband. 
Die Songs waren zu diesem Zeitpunkt alle nicht fertig, es waren eher Entwürfe und Ideen, wie die Band klingen sollte. Aber die Musik, die da vom Band aus Andis Zimmer zum Leben erweckt wurde, war abwechslungsreich, sie war irgendwie ungewöhnlich und es war ein ganz toller, einzigartiger Stil. Ich war direkt ganz begeistert. 
»Ja! Das hört sich gut an«, sagte ich als das Band auslief. »Also ich hätte Interesse daran.« 
Andy sah mich an: »Ja, perfekt, dann komm doch einfach zur nächsten Probe. Wir üben immer im Bunker.«

Hinter der roten Flora, mitten im Schanzenviertel, stand ein riesiger Bunker, in dem alle möglichen Bands ihre Proberäume hatten. Hier ging wortwörtlich der Punk ab. Andy hatte mir gesagt, wann ich da sein sollte und ich schlug mit meinem Bass und meinem Verstärker zur Probe auf. Ich lernte Folke Jensen kennen. Er sang und war quasi der Chef der Band. Andy spielte Gitarre, Dirk Keyboard und Hajo saß an den Drums. 
Wir jammten einfach ein bisschen drauf los und als es gut klappte und die anderen sagten »Ja, wenn du Lust hast, lass uns mal zusammen ein bisschen was machen«, da war ich plötzlich ein Mitglied der Elastique Chix. 

Elastique-Chix-VW
Folke

Folke war ein genialer Musiker. Er schrieb die Stücke und die Texte und machte einfach tolle Sachen. Auch später, als ich dann weg aus Hamburg war, verfolgte ich immer wieder, welche Projekte er auch mit anderen Bands machte. Er spielte mit Leuten, die auch deutschlandweit bekannt waren, machte sich selbst unter dem Pseudonym Ledernacken einen Namen, hatte ein paar Erfolge in Amerika, landete teilweise wegen seiner Texte sogar auf schwarzen Listen und eröffnete irgendwann in Hamburg ein Studio, wo er Bands produzierte und immer mit schrägen und außergewöhnlichen Musikern alle möglichen Projekte machte. Folke hatte einen Namen in der Szene und auch damals schon war er unglaublich gut. 

Auch Andy machte zu dieser Zeit schon eigene Projekte. Wir hatten auch außerhalb der Band viel miteinander zu tun, weil wir nah beieinander wohnten. Ab und zu gingen wir mal einen trinken und wenn Andy neue Musik herausbrachte, fragte er mich immer wieder nach Fotos für die Platten und Kassetten. Er veröffentlichte seine Musik über das berühmt-berüchtigte Zick-Zack-Label. Geleitet von Alfred Hilsberg, dem Punk-Papst, wurden hier viele Indie-Bands produziert und gemanagt. Unter anderem war das Zick-Zack aber auch ein Laden für Platten und Musik-Zeug, in dem Andy ab und zu jobbte. Nachdem ich meinen Job als Assistenzfotograf an den Nagel gehängt hatte, hatte ich angefangen bei der Post zu arbeiten, so wie ich es auch schon in München gemacht hatte, um irgendwie Geld reinzubekommen. Darunter litt mein Plan mich mit der Fotografie selbstständig zu machen, was während der Schichtarbeit überhaupt nicht möglich war. Als mir mein Freund Chris dann im Abaton-Kino für drei Tage die Woche einen Job als Filmvorführer anbot, hatte ich zumindest Zeit dazu, die paar Fotoaufträge anzunehmen, die ab und zu reinkamen. Das brachte mir wenigstens ein bisschen Geld ein, während ich meine Aufmerksamkeit lieber weiterhin der Musik widmete.

Kasette

Währenddessen, übten und übten Andy, ich und die restlichen Elastique Chix ein halbes Jahr lang fernab von banalen Weltlichkeiten wie dem Geldverdienen in unserem Bunker im Schanzenviertel unsere Songs. Wir hatten mittlerweile genug Songs für ein ganzes Album zusammen. Vom ersten „shimmy, shimmy, shake, shake“ bis hin zum letzten „boring, boring“ spielten wir den „Modern Live Jive" rauf und runter. Hier in unserem Übungsraum nahmen wir sieben Songs in entsprechend schlechter Qualität mit einem Kassettendeck auf. Die Stücke waren toll, sie hatten alle irgendwie etwas. 

Doch obwohl wir eine gute Live-Band gewesen wären, schafften wir es nie raus aus dem Bunker. Und zwar eigentlich nur aus dem Grund, dass unsere Vorstellungen etwas unterschiedlich waren. 
Andy und ich waren der Meinung: »Wir üben und üben und sollten endlich mal rausgehen. Wir müssen einem Publikum zeigen, was wir drauf haben.« 
Aber Folke und Hajo, die gut miteinander befreundet waren, hatten sich in den Kopf gesetzt, ins Studio zu gehen und eine Platte zu machen. Es gab Diskrepanzen innerhalb der Band, die damit ihr Ende fanden, dass Folke eines Tages einen Produzenten kennenlernte, der ein Studio hatte. 
»Das ist die Möglichkeit!«, sagte er. »Da gehen wir jetzt hin. Wir gehen ins Studio und machen eine Platte.« 
Und das war damit beschlossen. Wir gingen ins Studio.

Der Produzent war ein Idiot meiner Ansicht nach. Er nahm alles, was unsere Band eigentlich ausmachte und bügelte es glatt. Mit jeder Studio-Session nahm er mehr von dem ruppigen Live-Charakter unserer Band und versuchte es in fluffige Neue Deutsche Welle Musik zu verwandeln. Wir hatten einen besonderen Sound, aber mit der Aufnahme der Platte verschwand nach und nach alles davon. Andy und ich merkten beide, dass wir keine Lust darauf hatten, aber Andy war lange mit Folke befreundet und wusste, wie viel ihm daran lag. 
Er sagte: »Ich mach das, wenn er das jetzt will. Ich zieh das durch, mir ist das wurscht.« 
Aber ich hatte da eigentlich keinen Bock drauf. Und als ich merkte, dass es mir keinen Spaß mehr machte, dass das für mich nicht mehr ging, da wusste ich auch, für mich war der Zeitpunkt gekommen, bei den Elastique Chix auszusteigen.

Andi-Studio

Ein elastisches Ende

Vater: »Ich blieb noch, bis sie einen anderen Bassisten gefunden hatten. Darauf hatten wir uns geeinigt. Dann bin ich ausgestiegen aus der Band. Ich hatte noch einen kleinen Teil der Platte mit eingespielt und der neue Bassist übernahm dann den Rest. Auch Andy stieg kurze Zeit später aus der Band aus, bevor sich die Elastique Chix nach ihrem ersten und einzigen öffentlichen Auftritt im legendären Onkel Pö endgültig auflösten. Die Kritiken waren vernichtend.

Andy und ich hatten auch nach der Zeit in der Band noch viel miteinander zu tun. Nachdem ich über ein halbes Jahr später von meiner Arbeit als Bordfotograf auf einem Kreuzfahrtschiff zurückkam, wurde ich Teil seines Projekts „Lied an die Freude". Das Projekt bestand bereits aus Andys Freundin Gitta, die als Tänzerin mit Objekten im Raum und dem Raum selbst interagierte, während Andy Musik und Geräusche erzeugte. Mit abstrakten Dias und Lichtprojektionen fügte ich der Gruppe noch eine dritte Ebene hinzu. Lied an die Freude war Performance-Kunst, es war anders und es war besonders. Andy, Gitta und ich tourten durch ganz Deutschland, hatten Auftritte vom Spiegelzelt bei den Hamburger Kulturtagen, über die Krone in Darmstadt, dem Schwimmbadclub Heidelberg und dem legendären Drecksloch Ratinger Hof in Düsseldorf, bis hoch nach Amsterdam. Wir verbanden drei Medien zu einem Gesamtbild, das die unterschiedlichsten Reaktionen hervorrief. Radiomoderatoren scheiterten mit verzweifelten Fragen in Interviews auf der Suche nach konkreten Antworten und Erklärungsversuchen für das, was bei dem Teil der Presse und des Publikums, der sich darauf einließ, die verschiedensten Assoziationen und Gefühle hervorrief. 

Ein gutes Jahr später, nach mehreren Besuchen und ausführlichen Beratungen mit Mampf, entschied ich mich, es endlich ernsthaft mit der Fotografie zu versuchen; im Rahmen einer eigenen Werbeagentur. Andy und Gitta hatten Verständnis für meine Entscheidung und meinen Ausstieg bei Lied an die Freude. Sie fuhren mit mir nach Aschaffenburg, lieferten mich und meine wieder mal aufs Wesentliche reduzierte Wohnungseinrichtung ab und überließen Mampf und mich unseren Plänen und Vorhaben, eine Agentur zu gründen. Erst in der darauffolgenden Zeit wusste ich, dass ich nie ein Musiker, aber auch nie ein Star-Fotograf werden würde. Und als ich das kapiert hatte, da hat sich mein Dilemma mit der Fotografie und der Musik entspannt. Da habe ich gemerkt, das kann ja auch durchaus parallel gehen. Man kann ja durchaus Fotografie machen und damit sein Geld verdienen und zusehen, dass man irgendwie über die Runden kommt und trotzdem nebenbei ein bisschen Musik machen. Von der Zeit in der Agentur und bis heute - über all die Jahre begleitete mich die Musik immer.«

Ich: »Wenn du dich jetzt mal in die heutige Zeit reindenkst - kleiner Ausflug quasi, ein Gedankenexperiment. Angenommen du wärst jetzt in der Schule, würdest über deinen Berufsweg nachdenken und angenommen du würdest auch versuchen, einen Beruf zu finden, der dich definiert, bei dem du das Gefühl hast, ich werde mit dem, was ich tue auch glücklich. Glaubst du, du würdest dich heute anders entscheiden?«

Vater: »Hm, das ist ganz schwierig zu beantworten. Weil die Zeiten und äußeren Umstände heute natürlich so unterschiedlich sind, dass man das ganz schwer sagen kann. Ich glaube, ich würde es heute nicht anders machen. Aber sicher kann ich mir da bestimmt nicht sein. Wenn ich heute nochmal in der Situation wäre, würde in die Schule gehen, müsste mir jetzt überlegen, was wird mit meinem Beruf, mit meinem Leben. Ich kann es nicht sagen. Schwer, ganz schwer zu sagen. Aber etwas Ähnliches auf alle Fälle. Also sicherlich auch irgendetwas mit Zeichnen, mit Musik oder auch mit Fotografie.
Aber wenn ich so zurückdenke, gibt es auf jeden Fall eine Sache, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht. Egal was ich gemacht habe, egal ob Fotografie oder Musik, an einem Punkt, wo es für mich persönlich nicht mehr weiter ging, habe ich, ohne dass ich groß über die Konsequenzen nachgedacht hätte, abgebrochen. Auch mit der Band zum Beispiel. Mit der Plattengeschichte. Das war ähnlich. 
Als ich gemerkt habe, das geht so nicht, da hab ich gesagt: ›Nein Leute, nicht mit mir. Ich kann das so nicht.‹ 
Auch wenn ich nicht wusste, ob das, was ich machte, nicht vielleicht Erfolg haben könnte. Das war für mich nicht der ausschlaggebende Punkt. Wenn ich an einen Punkt gekommen bin, wo ich gesagt habe, das ist für mich die Grenze, das stimmt nicht mit meinen Werten und Vorstellungen überein oder mit dem, was ich will, dann hab ich aufgehört. Ganz egal, welche Konsequenzen sich daraus ergeben haben. Und das war bei vielen Sachen so. 
Bei vielen Sachen bin ich immer, wenn es nicht mehr ging, ausgestiegen und habe gesagt: ›Nein‹. 
Das ist glaube ich am wichtigsten, wenn man Entscheidungen trifft. Dass man weiß, an welchem Punkt es am besten ist, aufzuhören.«