Zu dieser Zeit boomte die Werbung. Allein in Hamburg gab es tausende Agenturen und tausende Fotografen, die sich alle um die fetten, üppigen Werbeetats balgten. Die Firmen holten sich über die Agenturen Angebote ein und um den Job zu bekommen, musste man besser sein als die anderen. Und am besten auch noch billiger. Jan Paulsen war einer dieser Fotografen. Er war in Hamburg bekannt und machte ziemlich gute und schräge Sachen.
Ich stand in seinem Loft in Winterhude und versuchte ihm momentan in Erinnerung zu rufen, von welchem Bekannten ich seinen Namen und seine Adresse bekommen hatte und Grüße ausrichten sollte.
»Aus Kassel«, versuchte ich es gerade mit einer Zusatzinfo.
»Achso, der. Ja, okay. Ich erinnere mich.«
Jan Paulsen nickte bedächtig, ein Typ Ende 30 mit Vollbart und einem Harley Davidson T-Shirt, und schien sich nicht so wirklich zu erinnern. Anscheinend waren er und mein Bekannter aus Kassel doch nicht so eng, wie er behauptet hatte.
Aber jetzt, wo ich schonmal in Jan Paulsens Atelier stand, konnte ich auch die Gelegenheit nutzen und begann vorsichtig: »Ja, also auf jeden Fall bin ich Fotograf und gerade nach Hamburg gezogen. Ich hab jetzt zwar eine Zeit lang nichts mehr gemacht, aber...« und ich überreichte ihm meine Fotomappe, »...ich kenne mich schon mit Werbung aus. Ich war in Kassel als freier Fotograf tätig. Werbung und Industriefotografie. Das interessiert mich und das habe ich auch immer wieder gemacht.«
Ich beobachtete Jan Paulsen, der in meiner Mappe blätterte...
...und wartete auf eine Antwort, auch wenn ich nicht wirklich eine Frage gestellt hatte. Die Augen unter seinen wild fallenden braunen Haare wanderten bedächtig über meine Arbeiten, während ich etwas unbeholfen in der Mitte des Lofts stand. Der Raum war weitläufig und bot genug Platz für ein relativ großes Studio. Ich sah mehrere Kameras und eine Blitzanlage. Alles Geräte, die ich in meinem Leben zwar theoretisch kannte, aber noch nie bedient hatte. Auf jeden Fall sah es für meine Begriffe sehr professionell aus. Und dann hatte ich mal wieder Glück.
Jan Paulsen klappte meine Mappe zu: »Ja, okay.«
Er reichte mir die Mappe und überlegte einen Moment.
Dann fuhr er fort: »Fang bei mir als Assi an. Ich kann jemanden gebrauchen, der mich unterstützt. Aber pass auf, Hamburg ist nicht billig. Du musst von irgendwas einigermaßen leben können.«
Während er sprach, schritt Jan Paulsen durch sein Loft, wie um nochmal zu unterstreichen, wie man in Hamburg einigermaßen lebte.
Dann drehte er sich auf dem Absatz zu mir um und blickte mich an: »Ich zahl dir zwölfhundert Mark im Monat. Morgen fängst du an, sei pünktlich um acht hier im Studio.«
Und damit war das abgemacht. Ich wurde der Assistenzfotograf von Jan Paulsen. Das war keine großartig verbindliche Geschichte, statt eines Arbeitsvertrags gab es einen Handschlag, aber für mich war das gleich doppelt Glück. Ich brauchte einen Job und Jan bezahlte mich fair. Zwölfhundert Mark im Monat, das war toll. Später sollte ich Assistenzfotografen kennenlernen, die waren froh, dass sie bei ihrem Fotografen arbeiten durften. Die brachten im Prinzip Geld mit. Später erfuhr ich, dass sich der Fotoassistent von Jan kurz vorher selbstständig gemacht hatte, als ich bei ihm auf der Matte stand. Jan brauchte also einen Assistenten. Es war reiner Zufall, dass ich ausgerechnet zu diesem Zeitpunkt auftauchte. Nur wegen meiner Fotos und dem, was ich ihm erzählt hatte, hätte ich im Normalfall wahrscheinlich überhaupt keine Chance gehabt. Aber ich war eben da, als er jemanden brauchte und so tauchte ich wie verabredet am nächsten Tag im Studio auf. Jan führte mich herum und zeigte mir, was ich zu tun hatte. Als Assistenzfotograf war ich im Prinzip dafür zuständig, alle Vorbereitungen für ein anstehendes Shooting zu treffen. Den Aufbau, Kameras und Blitzanlage sauber machen, die Filme einlegen, Licht aufbauen, ausprobieren, messen. So dass Jan im Prinzip einfach nur ans Set kommen und loslegen konnte. Das war meine Aufgabe und ich versuchte mir nach Möglichkeit nicht anmerken zu lassen, dass ich am Anfang von Tuten und Blasen wenig Ahnung hatte.
Es war Anfang 1979 und meine zweite Woche bei Jan, als ich zu spät zur Arbeit kam. Deutschland erlebte gerade einen wahnsinnigen Wintereinbruch, im Norden brach alles zusammen, die Bundeswehr wurde eingesetzt, um Menschen aus Dörfern und Autos zu befreien und als ich morgens aus dem Fenster in den Hof blickte, sah ich, dass mein Auto eingeschneit war. Ich wohnte ja noch bei Berend in Winsen an der Luhe und musste nach Hamburg zur Arbeit pendeln, bis ich irgendwann später selbst in die Stadt zog. Aber an diesem Morgen musste ich mein Auto und die Einfahrt freischaufeln und kam erst eine gute Stunde später in Hamburg an der alten Fischmarkthalle an. Wir sollten ein paar Sprayer dabei fotografieren, wie sie Graffiti an eine Plakatwand sprühten und bereits am Vortag war die ganze Szene inklusive einer Mauer in der alten Fischmarkthalle eingerichtet worden, die wenigstens vor den Schneemassen draußen schützte und das Setting einigermaßen sommerlich wirken ließ. Trotzdem waren es an die -10 Grad und es pfiff durch alle Ritzen, als ich Jan am Set entdeckte und mich hektisch bei ihm entschuldigte.
Ich sagte »Jan, es tut mir Leid, mein Auto war eingeschneit. Ich bin so schnell gekommen, wie ich konnte«
Jan entgegnete mir: »Das ist der Job. Wie du das machst, ist mir egal. Aber sei hier, wenn wir anfangen. Dann brauche ich dich und dann musst du da sein.«
Jan Paulsen war ein ziemlicher Dickkopf, wie ich über die Zeit merkte. Er hatte eine Freundin, Amerikanerin und Model, die auch ab und zu mal bei Jans Shootings vor der Kamera stand. Sie hatte richtig viel auf dem Kasten und sagte ihm immer wieder, wenn sie etwas nicht in Ordnung fand. Aber das machte ihn dann erst richtig bockig. Eigentlich war er ein sehr gutmütiger Kerl. Er hatte einen weichen Kern, aber als Rocker und langjähriges Mitglied der Hells Angels meinte er sich als solcher natürlich auch wie ein Macho verhalten zu müssen. Von einer Frau wollte er sich nichts sagen lassen. Wie sich das gehörte, hatte er eine Harley Davidson, einen Papagei und auch sehr merkwürdige Freunde, die ich durch meine ständige Anwesenheit in Jans Loft natürlich kennenlernte, wenn sie bei uns im Studio auftauchten, in dem Jan auch wohnte. Es waren alle möglichen Schickimicki-Typen, Rocker von den Hells Angels, Jumbo-Piloten von der Lufthansa und irgendwelche Zuhältertypen aus den finstersten Ecken der Reeperbahn, die zum Teil einen lustigen und netten Eindruck machten, aber denen man nicht nachts in einer dunklen Ecke begegnen wollte. Sobald sie sich zankten, tranken oder irgendwelche anderen Drogen konsumiert hatten, wurden manche von ihnen sofort sehr komisch.
Auf der anderen Seite lernte ich in dieser Zeit aber auch, wie professionelles Fotografieren funktionierte. Ich half und schaute zu und lernte, wie das alles überhaupt ablief, wovon ich vorher überhaupt keine Ahnung hatte. Wir arbeiteten mit einer Menge großer Firmen zusammen, machten Werbung für alle möglichen Zigarettenmarken, lichteten die Liköre der Firma Veerporten ab und rückten die Tonträger von RCA ins richtige Licht. Für eine Werbekampagne von Shell, die als erste überhaupt ihre Tankstellen auch nachts öffnen wollten, fuhren Jan und ich in gut einer Woche durch ganz Deutschland und fotografierten alle Shell Tankstellen bei Nacht.
Einige Zeit später kam die Werbung für eine neue Zigarette ins Spiel. Zu dieser Zeit wurden ständig neue Zigaretten eingeführt, zu denen es andauernd neue Kampagnen gab. Aber dieses Konzept war ganz besonders komisch. Die zuständige Agentur wollte die Zigarette in Beziehung zu irgendwelchen neuen Techniken und Innovationen setzen, um sie so moderner wirken zu lassen.
Und als ich sah, mit was dieses Mal geworben werden sollte, ging ich zu Jan und sagte: »Jan, bei aller Liebe, da mache ich nicht mit.«
Die Zigarettenwerbung sollte in einem AKW fotografiert werden und moderne junge Leute zeigen, die dort gerne arbeiteten. Ein tolles AKW mit einem ganz besonders strahlenden Team.
»Den Leuten zu verkaufen, wie toll AKWs sind, das mache ich nicht«, fuhr ich fort. Zu diesem Zeitpunkt liefen bereits überall Demonstrationen gegen die AKWs, aber Jan hatte sich nicht damit beschäftigt. »Damit wird den Leuten quasi eingeredet, dass alles easy und alles prima ist und überhaupt kein Thema. Dass das eine tolle Technik ist und wie locker leicht das alles ist. Und das will ich nicht. Da will ich nicht mitmachen bei solchen Geschichten.«
Jan hörte sich an, was ich zu sagen hatte und auch seine Freundin pflichtete mir bei, die das auch absolut nicht in Ordnung fand. Es entstand eine lange Diskussion über Moral und Werte und wie weit man in der Werbung überhaupt gehen darf, aber Jan hatte dazu eine eindeutige Meinung.
»Ja, das mag schon stimmen, was ihr da sagt über die AKWs«, fing er an, »Aber ich hab hier mein Studio und ich habe bestimmte Kosten, die ich irgendwie decken muss. Und ich habe ein Renommee und einen Namen und kann es mir nicht leisten, bei allen möglichen Aufträgen zu sagen, das mache ich aus moralischen Bedenken nicht.«
Es war eine Grundsatzdiskussion. Natürlich war es nicht leicht. Geld zu verdienen und Grenzen zu setzen, das war nicht nur in der Werbung schwierig. Aber meine Entscheidung stand fest. Ich würde keine Werbung für ein AKW machen.
»Und Jan, außerdem...«, sagte ich ihm, »...ich glaube, ich muss mir was Anderes suchen. Ich bin nicht so glücklich hiermit und ich komme auch nicht wirklich von der Stelle. Tut mir Leid, aber ich steige aus.«
»Okay, klar. Das verstehe ich«, er nickte. »Ich suche mir jemand anderen. Aber tu mir den Gefallen und bleib noch so lange, bis ich jemanden gefunden habe.«
»Na klar. Kein Thema«, sagte ich und nur kurze Zeit später endete für mich die erste Phase meiner Zeit in Hamburg und ich nahm mir vor es selbst als Fotograf zu versuchen. Was natürlich unheimlich schwer war.
Vater: »Jan Paulsen war Geschichte, aber ich blieb noch eine Weile in Hamburg. Ich ging wieder zur Post, denn ich musste ja irgendwo Geld herkriegen und dachte mir, ich versuche mir parallel dazu mit Fotografie selbstständig etwas aufzubauen. Aber das funktionierte nicht so gut mit dem Schichtarbeiten nebenbei. Ich stand vor einem altbekannten Problem: Ich wollte meine fotografische Laufbahn weiterverfolgen und musste irgendwie Geld verdienen. Ich versuchte es stattdessen als Kurierfahrer, ich arbeitete bei Chris, den ich noch aus Kassel kannte, im Abaton-Kino als Filmvorführer, aber es war Zufall, wie so oft, als ich kurze Zeit später als Bordfotograf für ein Kreuzfahrtschiff angefragt wurde. Im nächsten halben Jahr machte ich einen Job, den ich nie vorher machen wollte. In einem kleinen Fotolabor auf einem riesigen Chaotenschiff entwickelte ich unterwegs in der Karibik und in Südamerika Fotografien von Gästen und Besatzung, lichtete sie bei den zahlreichen Festen und Gala-Abenden ab. Ich merkte, dass ich selbst das mit einem gewissen Alkoholpegel ganz gut ertragen konnte. Dass ich damit Geld verdienen konnte und damit auch einigermaßen gut zurecht kam. Und dann war mir auch definitiv klar, dass die Fotografie der richtige Weg war.
Aber zu diesem Zeitpunkt war ich ja auch schon fast 30. Nachdem ich dann ein paar Jahre später mit Mampf nach Aschaffenburg gegangen war und wir die Agentur gegründet hatten, wusste ich, dass ich nie ein Musiker, aber auch nie ein Star-Fotograf werden würde. Und als ich das kapiert hatte, da hat sich mein Dilemma mit der Fotografie und der Musik entspannt. Da habe ich gemerkt, das kann ja auch durchaus parallel gehen. Man kann ja durchaus Fotografie machen und damit sein Geld verdienen und zusehen, dass man irgendwie über die Runden kommt und trotzdem nebenbei ein bisschen Musik machen.«
Ich: »Wenn du dich jetzt mal in die heutige Zeit reindenkst - kleiner Ausflug quasi, ein Gedankenexperiment. Angenommen du wärst jetzt in der Schule, würdest über deinen Berufsweg nachdenken und angenommen du würdest auch versuchen, einen Beruf zu finden, der dich definiert, wo du das Gefühl hast, ich werde mit dem, was ich tue auch glücklich. Glaubst du, du würdest dich heute anders entscheiden?«
Vater: »Hm, das ist ganz schwierig zu beantworten. Weil die Zeiten und äußeren Umstände heute natürlich so unterschiedlich sind, dass man das ganz schwer sagen kann. Ich glaube, ich würde es heute nicht anders machen. Aber sicher kann ich mir da bestimmt nicht sein. Wenn ich heute nochmal in der Situation wäre, würde in die Schule gehen, müsste mir jetzt überlegen, was wird mit meinem Beruf, mit meinem Leben. Ich kann es nicht sagen. Schwer, ganz schwer zu sagen. Aber etwas Ähnliches auf alle Fälle. Also sicherlich auch irgendwas mit Zeichnen, mit Musik oder auch mit Fotografie.
Aber wenn ich so zurückdenke, gibt es auf jeden Fall eine Sache, die sich wie ein roter Faden durch mein Leben zieht. Egal was ich gemacht habe, egal ob Fotografie oder Musik, an einem Punkt, wo es für mich persönlich nicht mehr weiter ging, habe ich, ohne dass ich groß über die Konsequenzen nachgedacht hätte, abgebrochen. Also das heißt, auch wenn ich nicht wusste, wie es finanziell weitergeht. Bei Jan Paulsen zum Beispiel wusste ich nicht, wie ich finanziell weiterkomme, wenn ich bei ihm aussteige. Aber das war für mich nicht der ausschlaggebende Punkt. Wenn ich an einen Punkt gekommen bin, wo ich gesagt habe, das ist für mich die Grenze, das stimmt nicht mit meinen Werten und Vorstellungen überein oder mit dem, was ich will, dann habe ich aufgehört. Ganz egal, welche Konsequenzen sich daraus ergeben haben. Und das war bei vielen Sachen so.
Bei vielen Sachen bin ich immer, wenn es nicht mehr ging, ausgestiegen und habe gesagt: ›Nein‹.
Das ist glaube ich am wichtigsten, wenn man Entscheidungen trifft. Dass man weiß, an welchem Punkt es am besten ist, aufzuhören.«