Hardenbergstraße

Kapitel 3

Über die Kindheit, das Aufwachsen, das Leben, den Tod und was man so werden will.

Vater-53

Wie wir lebten

Geboren bin ich in Kassel. In einem Zweifamilienhaus mit großem Garten im Stadtteil Kirchditmold. Vor uns lebte dort ein Ehepaar mit seinem Sohn. Dann war der Sohn im Krieg und das halbe Haus stand leer. Es kam die Nachkriegszeit und mit ihr der Wohnungsmangel. Also vermietete das Ehepaar das obere Stockwerk und ab da lebten meine Großeltern, meine Eltern, mein Bruder und ich mit in dem Haus. Damals war es ganz normal, dass sich zwei oder drei Generationen eine Wohnung teilten. Aber wir waren nicht lange dort. Als der Sohn des Ehepaars dann doch endlich aus der Kriegsgefangenschaft zurückkam, lernte er eine Frau kennen, heiratete und sie brauchten den Platz in dem Haus seiner Eltern. Also mussten wir raus aus dem oberen Stockwerk, da war ich noch nicht mal ein Jahr alt. Aber weil meine Eltern sich mit dem Sohn und seiner Frau angefreundet hatten und wir später immer mal wieder zu Besuch waren, kann ich mich trotzdem noch gut an dieses Haus in Kirchditmold erinnern.

Wir zogen dann in eine kleine Straße in der Stadt. Obwohl die Wohnung mitten in Kassel lag, war es trotzdem ruhig in der Gegend. Es ging leicht bergauf die Hardenbergstraße entlang, bis ein kleines gepflastertes Seitensträßchen nach rechts in eine Sackgasse führte. Die Geibelstraße. Direkt vor der Abzweigen der beiden Straße war der Eingang zu einem Wohnhaus, in dem bestimmt 12 bis 15 Familien Platz hatten. Und genau an dieser Ecke, in der Hausnummer 8, wohnten wir.

Hardenbergstraße


Klicke auf die Bezeichnungen der einzelnen Zimmer, um mehr
über die Räume und ihre Bewohner*innen zu erfahren.

Grundriss_Einzelexport
Kueche_Einzelexport
Bad_Einzelexport
Brauerei_Einzelexport
ZimmerGrosseltern2_Einzelexport
Eltern_Einzelexport
Flur_Einzelexport
Keller_Einzelexport

Vater

1953

03_10_GrundrissHardenbergstrasse_Kapitel3 GrundrissWendelinusstrasse_Kapitel3

Ich

2010


Ziehe den Regler nach rechts oder links, um die beiden Grundrisse miteinander zu vergleichen. Hinweis: Die Abbildungen sind im Vergleich zueinander nicht maßstabsgetreu.

Opa

Mein Opa war gerne unterwegs, er ging jeden Tag spazieren. Überall in Laufnähe zur Hardenbergstraße gab es alle möglichen Geschäfte. Bäckereien, Metzgereien und ein Lebensmittelgeschäft. Keine Supermärkte natürlich, so etwas gab es zu der Zeit noch nicht. Wenn du etwas gebraucht hast, dann bist du in den Lebensmittelladen gegangen. Das war so ein typischer Tante-Emma-Laden, da gab es alles, was man so brauchte. Von Schuhcreme, über Salat, bis hin zu Wurst und Milch. Dort ging man immer einkaufen und so kannte man da alle, vom Lehrjungen bis zur Verkäuferin, und sie kannten uns und vor allem meinen Opa. Er machte jeden Tag seine Runde, kannte jeden, plauderte mit allen ein bisschen und probierte hier und da mal, wenn sie ihm etwas anboten.
Mein Opa war ein sehr freundlicher und hilfsbereiter Mensch. Meinem Bruder half er viel bei den Aufgaben und lernte mit ihm, denn er war ein paar Jahre älter als ich und damals schon in der Schule. Mein Opa war immer gut gelaunt und lustig und wir unternahmen viel miteinander. Schon als ich noch ganz klein war, nahm er mich mit auf seine kleine Tour. Irgendwann vormittags liefen wir zusammen los. Zu Fuß ging es in die Stadt, in eine Gaststätte, die hieß "Bärenkammer". Eine Treppe führte nach unten in die schummrige Kneipe und in der Ecke stand eine riesige Bärenfigur. Mein Opa bestellte sich dann sein erstes Bierchen und für mich einen Saft. Dann saßen wir zusammen am Tisch oder mein Opa traf sich mit Freunden und Kollegen und er gab mir etwas, mit dem ich mich beschäftigten konnte. Manchmal war es ein Auto oder häufig auch irgendein Block, auf dem ich malen konnte. Dann unterhielt er sich und trank sein Bier und nach einer Stunde ging es dann wieder weiter. Es gab auch noch eine andere Kneipe, an deren Namen ich mich nicht erinnere. 
Aber als Kind sagte ich immer: "Wir gehen nach Polen!« Das lag daran, dass ich dort immer eine polnische Wurst bekam. Geräuchert und stark gewürzt mit etwas Kümmel, das liebte ich als Kind. 
Nach unserem Kneipenbesuch ging es dann weiter mit unserem Spaziergang. Wir gingen einkaufen oder machten ganz oft auch Ausflüge in die Aue, in den Park Wilhelmshöhe oder zur Löwenburg. Wir liefen am Herkules die Kaskaden hoch und wieder runter oder wir gingen zum Hauptbahnhof und schauten den ankommenden Zügen zu. Wenn mal ein Zirkus in der Stadt war, gingen wir selbstverständlich immer vormittags zur Tierschau. Da konnte man sich alle Zirkustiere ganz aus der Nähe anschauen. Aber das Tollste war für mich, wenn wir zusammen das Naturkundemuseum besuchten. Das war richtig abenteuerlich. Während wir durch die Gänge des Museums liefen, vorbei an Glaskästen mit ausgestopften Tieren, erzählte mein Opa, was er über die Insekten, Vögel, Reptilien und Säugetiere wusste und ich hörte gespannt zu. So verbrachten mein Opa und ich viel Zeit miteinander und ich hatte immer Spaß auf unseren Ausflügen.

Opa & Vater 1952 Opa & Ich1996
ich-Paul-54-mit-Opa

Deswegen war das dann auch ziemlich traurig.
Eines Tages, da klingelte es auf einmal bei uns daheim. Der Lehrjunge aus dem Lebensmittelladen um die Ecke stand vor der Tür. Ich bekam nicht viel mit, ich weiß nur noch, dass meine Mutter dann überstürzt losrannte und noch irgendetwas zu meiner Oma sagte, sie solle auf uns aufpassen. Meine Oma wusste auch nicht, was los war, aber sie konnte auch nicht viel mehr machen, als bei uns zu bleiben und zu warten. Es dauerte eine ganze Weile, bis meine Mutter dann irgendwann zurückkam. Dann wurde meine Oma auf einmal ganz hysterisch. So hatte ich sie noch nie gesehen und egal, was meine Mutter sagte, sie wollte sich nicht beruhigen. Ich konnte gar nicht verstehen, was da grade passierte.
Aber ich wollte natürlich wissen »Was ist denn da los, der Opa kommt nicht?«, aber alles drehte sich nur um meine Oma.
Sie war so aufgebracht, dass meine Mutter zu den Nachbarn rannte, die damals schon ein Telefon hatten und den Hausarzt anrief. Er kam vorbei und gab meiner Oma eine Spritze. Erst dann beruhigte sie sich langsam wieder.
»Wo ist denn der Opa?«, fragte ich.
Aber niemand kam zu mir, tröstete mich oder erklärte mir, was passiert war. Ich wusste halt nur, es ist irgendwas Schlimmes jetzt. 

Ja und... 
Ja und der Opa kommt halt nicht mehr.

Mein Opa war gerade 72 Jahre alt und unterwegs auf seiner täglichen Tour. Er ging in unseren Lebensmittelladen und scherzte noch mit den Leuten, unterhielt sich hier und dort, kostete ein Stückchen Wurst und dann fiel er plötzlich um. Herzinfarkt. Es wurde sofort ein Krankenwagen gerufen, aber mein Opa erreichte das Krankenhaus nicht mehr lebend. Einen Notarzt gab es damals noch nicht. Weil man uns im Lebensmittelladen kannte, schickten sie sofort den Lehrjungen, um uns Bescheid zu sagen und er klingelte bei uns an der Tür.

Auch in der Zeit danach war das bei uns daheim kein Thema, über das gesprochen wurde. Wir Kinder haben dazu nicht viel gesagt bekommen. Nur »Der Opa kommt nicht mehr« oder so was.
Ich erinnere mich, wie ich in dem Zimmer meiner Großeltern bestimmt noch ein Jahr lang abends manchmal in dem Sessel neben dem Radio saß.
Und ihn heimkommen gehört hab.
Leise Schritte und der Spazierstock, der im Flur wiederhallte: Tock, tock, tock.
Und dann habe ich immer nur gedacht: »Ah, der Opa kommt nach Hause.«

Ich: »Wusstest du für dich, dass du dir das vorstellst?«

Vater: »Nein, das wusste ich nicht.«

...

Vater: »Da hab ich auch glaube ich gar nicht groß drüber nachgedacht. Ich...«

...

Vater: »Ich meine, ich war damals fünf. Ich hab das selbst gar nicht richtig verstanden und ich bin da jetzt auch nicht drüber informiert worden. Wir Kinder haben nicht viel dazu gesagt bekommen.«

07_Foto_Vater1959_Kapitel3

Über Leben und Tod

Ich: »Ja, wie geht man mit sowas um? Also wie geht man mit dem Thema Tod um oder wie geht man generell mit so negativen Dingen um?«

...

Ich: »Ich hab da auch mal drüber nachgedacht. Weil natürlich ist das ein schwieriges Thema.«

Vater: »Hm.«

Ich: "Ein Thema, das mit Trauer und negativen Emotionen behaftet ist. Ich kann mich nur auch erinnern... Meine Großeltern sind alle 2011 gestorben. Und ich erinnere mich nicht mehr wirklich gut an die Situationen, wobei ich da ja schon deutlich älter war als du.«

Vater: »Ja, klar.«

Ich: »Wie alt war ich? 14?«

Vater: »Ja, 2011 warst du 15. Erst sind meine Eltern gestorben. Ich glaube meine Mutter ja im Prinzip nach Silvester.«

Ich: »Ja, stimmt. Stimmt.«

Vater: »Dann ist mein Vater gestorben und deine Oma ist dann glaube ich kurz darauf gestorben. Es war Sommer auf alle Fälle. Es war ziemlich warm. Das muss August oder so was gewesen sein. Sie muss kurz nach meinem Vater gestorben sein.«

Ich: »Das stimmt. Bei Omi weiß ich es auf jeden Fall noch. Da weiß ich, dass du angerufen hattest und meine Mutter irgendwie mit dir telefoniert hat und in mein Zimmer gekommen ist und mir das gesagt hat. Ich weiß noch, dass das auch sehr überraschend kam, weil ich an Weihnachten mit ihr telefoniert hatte.«

Vater: »Genau. Ja, klar.«

Ich: »Aber ich weiß auch, dass der Moment, in dem ich das erfahren habe, quasi daraus bestand, dass meine Mutter mir das gesagt hat und ich glaube ich lag in meinem Bett, das weiß ich sogar auch noch. Und dann hab ich mich umgedreht und geweint. Meine Mutter ist wieder raus gegangen und dann war es das glaube ich so ziemlich. Also wir haben da bestimmt auch nochmal drüber geredet. Zumindest bei Opi weiß ich, dass wir im Auto saßen und dass du das auf jeden Fall erzählt hast.«

Vater: »Ja, ich habe dich da von der Schule abgeholt und ich glaube da hat mich mein Bruder schon angerufen. Und dann haben wir glaube ich drüber gesprochen. Ja.«

Ich: »Das kann gut sein. Ja, stimmt. Da erinnere ich mich noch daran, dass wir Auto gefahren sind.«

Vater: »Jaja, das weiß ich auch noch. Bei deiner Oma, da weiß ich auch gar nicht, wie das war im Einzelnen. Da hat mich deine Mutter glaube ich nur angerufen und hat gesagt: ›Sie ist gestorben‹«

Ich: »Ja, irgendwie so weiß ich es auch. Da erinnere ich mich gar nicht so wirklich dran.«

Vater: »Nein, ich auch nicht so ganz richtig.«

Ich: »Ja, ich weiß bei Opi auch, woran ich mich noch sehr gut erinnere. Weil wir zwischendurch auch in Kassel waren, wahrscheinlich zur Beerdigung von Omi. Und da erinnere ich mich noch dran, wie... Ja, wie es ihm ging.«

Vater: »Ja, der war halt ziemlich neben der Kappe. Total.«

Ich: »Ich meine, natürlich war er neben der Kappe. Gar keine Frage. Aber das war ganz... Man wusste gar nicht, wie man damit... Also ich... Also... Das war ganz komisch für mich, das hat überhaupt nicht übereingestimmt.«

Vater: »Ja, klar.«

Ich: »Weil ich habe ihn ja noch nie in meinem Leben weinen sehen. Und natürlich war er total fertig mit den Nerven und hat ja wirklich schon eher geschrien als geweint. Zumindest erinnere ich mich da so dran.«

Vater: »Ja, ja.«

Ich: »Und hat glaube ich auch irgendwas gesagt, dass sie nicht mehr da ist. Das weiß ich noch. Und da konnte ich gar nicht mit umgehen. Was ja eigentlich - und deswegen komme ich auch auf das Thema, auch über die Frage, wie wurde damals mit dem Tod deines Opas umgegangen - schade ist, dass man immer so das Bild von Menschen hat, die einem nahe sind, dass sie einfach funktionieren und dass man gar nicht weiß, wie man mit solchen Situationen umgehen soll oder dass man sich eben anderen ganz selten auch in schwachen Momenten präsentiert. Sodass Trauer immer noch etwas ist, was man stark zurückhält.«

Vater: »Natürlich, klar.«

Ich: »Und das ist glaube ich bei Männern immer noch deutlich stärker als bei Frauen.«

Vater: »Ja, ja.«

Ich: »Und das ist mir dabei, bei dem Thema oder auch bei dem Gedanken, aufgefallen. Auch weil das ja, als wir über deinen Opa geredet haben, auch intensiv war und ich auch zum Beispiel gar nicht gewusst hätte, ob ich dich schonmal weinen gesehen habe.«

Vater: »Hm. Hm«

Ich: »Wüsste ich nicht. Erinnere ich mich nicht dran.«

Vater: »Naja, bei der Beerdigung glaub ich schon.«

Ich: »Ja, das kann sein. Das hab ich dann wahrscheinlich nicht so mitbekommen.«

Vater: »Ja, sicherlich. Das stimmt schon. Ja, ich weiß ja auch also die Beerdigung von meiner Mutter, da war ja richtig scheiß Wetter. Da hat es ja ziemlich geregnet glaube ich sogar. Und ich weiß natürlich auch - das war ja auch komisch. Wie gesagt, das von meiner Mutter kam für mich auch sehr überraschend eigentlich. Weil klar, ich wusste natürlich, sie ist so alt wie sie war. Aber ja, ich war da schon auch geschockt von.«

Ich: »Klar, natürlich.«

Vater: »Ja und bei der Beerdigung von meinem Vater, da war ja ganz tolles Wetter.«

Ich: »Ja, stimmt. Also hätte ich jetzt auch nicht mehr gewusst. Aber jetzt, wo du es sagst, erinnere ich mich.«

Vater: »Da war ja Sonne und heiß und alles.«

Ich: »Ja.«

Vater: »Ja.«

...

Ich: »Also wie macht man das denn? Wie geht man damit um? Wie kann man so damit umgehen, dass jetzt nicht Menschen das Gefühl haben, das Thema vermeiden zu müssen oder nicht richtig trauern zu können. Weil ich weiß auch, ich hab mich auch immer gewundert, weil ich das auch immer ein bisschen so weggeschoben habe und mir gedacht habe: ›Eigentlich müsste ich trauriger sein.‹ Aber gut klar, Kassel war ja schon nochmal anders, weil die hab ich ja selten gesehen.«

Vater: »Eben.«

Ich: »Das war ja keine direkte Auswirkung natürlich.«

Vater: »Ja, klar. Großeltern sind ja nochmal ein bisschen weiter entfernt.«

Ich: »Ja... Ja, klar.«

Vater: »Irgendwie... Ja, da ist man natürlich traurig, aber es ist nicht so dramatisch. Klar trauert man und heult vielleicht, aber das ist jetzt, ja... Ja... Das geht nicht so tief, würde ich mal sagen. Also das geht dann relativ bald irgendwie wieder so alles seinen normalen Weg. Dann hat man wieder seine normalen Sachen und ja dann ist es eine Erinnerung. Das verblasst dann auch irgendwie. Ja, das ist ganz natürlich, finde ich. Bei Eltern ist das eine andere Geschichte. Das geht schon näher. Klar, ne.«

Ich: »Ja, klar.«

Vater: »Klar. Da rechnet man einfach nicht mit. Weil wie gesagt Eltern sind eigentlich Menschen, die sind immer da. Das hat so auch zu sein. Die waren immer da und die sind auch immer da. Aber das ist halt nicht so. Ja, aber klar, ich meine wie gesagt, man muss damit natürlich anders umgehen. Man darf das nicht alles so wegwischen, wegschieben, weil es nutzt ja auch nichts abgesehen davon. Es bleibt ja trotzdem in einem drin.«

Ich: »Ja, ja. Eben.«

Vater: »Deswegen denke ich, man muss darüber auch reden, auch wie wir es gemacht haben. Über so Themen muss man reden. Auch wie jemand sich sein Begräbnis vorstellt. Das finde ich, ist wichtig, darüber zu reden. Das ändert nichts an der Trauer oder so.«

Ich: »Ja, also schon, doch. Ich finde schon, dass das auch was an der Trauer ändert.«

Vater: »Es gibt halt eine andere Möglichkeit damit umzugehen, denke ich.«

Ich: »Genau. Ich glaube schon, dass sich auch etwas damit ändert, weil der Umgang einfach ein anderer ist. Weil man nicht das Gefühl hat, man muss das in sich drin behalten und man darf das niemandem zeigen und ist allein damit. Oder ob man weiß, ich kann darüber reden, ich kann offen zeigen, dass ich traurig bin und kann das mit anderen teilen. Das macht ja schon einen Unterschied auf jeden Fall.«

Vater: »Ja, auf alle Fälle.«

Ich: »Auch mit der eigenen Trauer.«

Vater: »Ja.«

Ich: »Wie geht man damit um, wenn man das jemand anderem sagen muss zum Beispiel. Oder wie schafft man das, dem Raum zu geben oder das anderen näher zu bringen, dass das auch in Ordnung ist und dass das Teil des Lebens ist. Also nicht für einen selbst jetzt. Sondern wie bringe ich das zum Beispiel meinen Kindern bei, dass Tod etwas ist, das normal ist oder dass das irgendwann kommt.«

Vater: »Naja, gut...«

Ich: »Weil wie gesagt, das ist ja immer noch ganz viel so. Dass da einfach nicht drüber geredet wird und dass das irgendwann passiert und dann sagt man so: ›Ja, ist nicht mehr da.‹«

Vater: »Ja, das ist vollkommen schwachsinnig, finde ich. Diese Geschichte, wie es bei uns wahrscheinlich gelaufen ist, dann sowas zu sagen, wie ›Ja, der ist jetzt nicht mehr da.‹ Ich denke, dass man sowieso mit Kindern auch darüber reden sollte. Über den, na wie soll ich sagen... Na über den Lebenskreislauf einfach. Das ist das Leben, im Grund genommen. Dass da was geboren wird und dann wächst und dann irgendwas mehr oder weniger Vernünftiges tut (lacht) und es eben irgendwann auch zu Ende geht.«

Ich: »(lacht) Ja, etwas Vernünftiges.«

Vater: »Ich erinnere mich übrigens an eine Geschichte, die ich nie vergessen werden. Da warst du noch ein ganz kleiner Stöpsel, vielleicht drei, maximal vier Jahre alt. Da hast du mich mal gefragt: ›Warum muss man eigentlich immer denken?‹ Da war ich erstmal baff. Weil das war ja schon sehr philosophisch natürlich. Ich weiß gar nicht mehr in welchem Zusammenhang du das gefragt hast. Es ging um ein ernstes Thema, weiß ich und du hast dir da scheinbar irgendwie Gedanken drüber gemacht und du konntest es scheinbar irgendwie nicht abstellen. Ich habe dir dann glaube ich versucht, zu erklären, dass das Gehirn eben sehr kompliziert ist und all unsere Eindrücke, die wir haben, ständig verarbeitet. Dass es deswegen ganz schwierig ist, nicht zu denken und dass es sogar Religionen gibt, deren Ziel es ist, einen Zustand zu erreichen, in dem man nicht denkt.«

Ich: »Weißt du auch noch, was ich werden wollte als Kind?«

Vater: »Ich weiß auf alle Fälle, dass du nie aus Eichenberg weg wolltest. Ich habe dir dann immer, wenn ich dich mal geholt habe, die Stadt gezeigt und was man hier alles machen kann und dann hast du gesagt: ›Nein, ich will nie weg aus Eichenberg.‹ (lacht) Aber was du werden wolltest, fällt mir jetzt nicht mehr ein.«

Ich: »Was wolltest du denn werden, weißt du das noch?«

Schiffe malen

Ich war nicht im Kindergarten, weil das habe ich strikt abgelehnt. Als ich noch klein war, wurden mein Bruder und ich zusammen mit vielen anderen auf Erholungsfahrt geschickt. Die Folgen des Kriegs hatten viele Kinder krank gemacht. Es fehlte ihnen an Licht, Luft und Bewegung. In der Ruhe und Abgeschiedenheit eines katholischen Klosters sollten wir wieder zu Kräften kommen und vernünftig ernährt werden. Doch unter der unnachgiebigen Aufsicht der Nonnen wurde jedes Kind dazu gezwungen aufzuessen, egal was auf den Teller kam. Wer in der Nacht nicht schlafen konnte, musste hoffen, nicht erwischt zu werden, wenn die Nonnen in ihren Gewändern durch den Schlafsaal geisterten. Angst und Heimweh wurde nicht geduldet. Wer weinte, wurde bestraft. Wer sich weigerte, geschlagen. Die Zeit und die Wochen schienen nicht zu vergehen, bis wir endlich wieder nach Hause zurückkehren durften.

Laufen lernen

Nachdem ich von der Erholungsfahrt zurückkam, ging ich nirgends mehr hin. Meine Familie wollte mich zwar in den Kindergarten stecken und meine Mutter erzählte mir mit Freuden »Und da kann man auch spielen mit den anderen Kindern«, aber ich wollte nicht. 
Irgendwann kam dann der Tag, an dem man sich anmelden musste und meine Mutter sagte zu mir: »Komm wir gehen da einfach mal hin.« 
Ich wollte zwar nicht richtig, aber bin dann doch widerwillig mitgegangen. Der Kindergarten war nicht weit weg von uns daheim, das waren vielleicht 10 Minuten zu Fuß. Als meine Mutter und ich vor dem Kindergarten standen, konnte ich von draußen schon sehen, wie viele Kinder miteinander in dem großen Außenbereich spielten. Eigentlich sah das gar nicht schlecht aus, dachte ich mir. Aber dann sah ich die Kindergärtnerinnen mit ihren weißen Kleidern und Schürzen und sofort drehte ich mich um und machte mich auf den Heimweg. Meine Mutter lief mir hinterher und redete mir gut zu, aber ich ließ mich nicht mehr umstimmen. Und deswegen bin ich dann nie in den Kindergarten gekommen.

Später waren wir einmal zu Besuch in dem Haus in Kirchditmold, in dem ich geboren wurde. Meine Eltern waren ja mit dem Sohn und dem Ehepaar befreundet, das uns damals das obere Stockwerk vermietet hatte. Er und seine Frau hatten mittlerweile auch eine Tochter, die war ungefähr in meinem Alter. Außerdem war noch eine andere junge Frau zu Besuch. Sie und meine Mutter verstanden sich gut und es stellte sich heraus, dass Frau Küchen in der Geibelstraße wohnte, direkt schräg gegenüber von uns. Sie war schon eine Weile verheiratet und hatte zwar noch keine eigenen Kinder, aber war unheimlich kinderlieb. 
Also sagte sie zu meiner Mutter, als wir zusammen mit der Straßenbahn zurück nach Hause fuhren: »Also, wenn du mal was vorhast oder so und brauchst jemanden für den Stefan, dann kannst du den ruhig zu mir rüberschicken.«
Ich ließ mich zu dieser Zeit ja eigentlich zu niemandem schicken, aber zu Frau Küchen, da bin ich hingegangen. Angefangen hat das, da war ich noch nicht in der Schule, da wollte meine Mutter irgendetwas erledigen. 
Wir mussten nur einmal schräg über die Straße laufen und kaum hatte mich meine Mutter da abgeliefert, da ließ Frau Küchen sofort alles stehen und liegen und sagte: »Oh, toll.« 
Dann spielte sie mit mir und wir verstanden uns prima. Wenn ihr Mann dann von der Arbeit nach Hause kam, spielte er auf dem Flur Ball mit mir, was ich auch ganz toll fand. Bei uns durfte ich sowas nicht, weil meine Oma sofort auf die Palme gegangen wäre.

Vater 1957

Ab da war ich öfter da und die Küchens und meine Eltern besuchten sich immer mal wieder gegenseitig. Die Wohnung der Küchens hatte wie bei uns auch einen ganz langen Gang, von dem nach links noch ein Zimmer abging. Dort im vorderen Teil der Wohnung lebte auch noch ein alter Herr. Er war nicht verwandt mit den Küchens, aber sie wohnten zusammen. Ab und zu schenkte er mir ein Bonbon, wenn er mich sah. Später fand ich dann irgendwann heraus, dass bei ihm im Zimmer etwas ganz Besonderes stand: Ein Fernseher.
Tapfer ging ich zu seiner Tür, klopfte und sagte zaghaft: »Ähm, Entschuldigung, ich wollte fragen, ob ich mal zum Fernsehgucken kommen darf?« 
Manchmal war er schlecht gelaunt, dann sagte er: »Ne, heut nit. Ich hab keine Zeit.« 
Aber manchmal, wenn er gut gelaunt war, ließ er mich rein, machte den Fernseher an und während er auf seinem Sessel einschlief, saß ich auf einem Stuhl schräg daneben und schaute fern.

In der Wohnung der Küchens gab es aber noch ein anderes Highlight. In ihrem Wohnzimmer stand etwas, das war so groß wie ein Schrank. Im rechten Teil davon stand ein großes Radio mit einem Ablagefach für allen möglichen Krimskrams. Links und rechts darunter waren Lautsprecher eingebaut und auf der linken Seite des Schranks konnte man eine kleine Tür zur Seite schieben, hinter der sich Schallplatten verbargen. Und ein Schallplattenspieler. Das war ein tolles Ding. Klar, ich kannte ein Radio. Neben dem Sessel im Zimmer meiner Oma stand eins, das lief oft und meine Mutter hatte in der Küche noch eins, da kamen den ganzen Tag immer mal wieder irgendwelche Sendungen. Meistens Schlager, Nachrichten und irgendwelche Reportagen. Aber das war das Einzige, wo ich Musik gehört hatte und so etwas, wie diesen Schrank hatte ich noch nie gesehen.
»Was ist das?«, fragte ich Frau Küchen neugierig.
»Das ist eine Musiktruhe«, sagte sie und zeigte es mir. 
Sie öffnete die Schiebetür, nahm eine der Platten heraus und legte sie oben auf den Schallplattenspieler. Das war total irre für mich. Natürlich wollte ich auch noch die anderen Platten hören. Also zog Frau Küchen noch ein paar weitere Platten hinter der Schiebetür hervor und legte sie auf. Alles hauptsächlich Schlagerplatten. Aber dann spielte sie ein Lied, das hieß "Mary Ann". Ich glaube, der Text ging ungefähr so:

So ungefähr war dieser Text. Es war ein Seemannslied. Gesungen von so einem Typ mit so einer tiefen Stimme (lacht). Und das Lied hatte den Erfolg... (lacht) Jetzt muss ich lachen. Das hatte den Erfolg, dass immer, wenn ich dann in der Zukunft zu Küchens gekommen bin, mein erster Weg an die Musiktruhe ging, wo ich meistens diese Platte auflegte. Und dann hörte ich die. 10 bis 15 Mal hintereinander. Die arme Frau Küchen, die hat das stoisch über sich ergehen lassen.
Manchmal sagte sie dann irgendwann »Okay, ich mache jetzt mal die Tür zu«, wenn es ihr zu viel wurde.
Aber ich konnte da drin bleiben, ganz egal. Ich hörte dann jedes Mal, wenn ich da war, diese Platte. Das ging nicht über Wochen, das ging über Monate oder vielleicht sogar ein Jahr. "Mary Ann", das war mein Lied. Obwohl es ja keine so positive Geschichte war. Aber es berührte einfach irgendetwas in mir. Dann fing ich an und malte nur noch Schiffe. Schiffe, Schiffe, Schiffe. Für mich war dann eins relativ klar: Ich wollte Matrose werden.

Weiterlesen

Mein VaterKapitel 1

M.S. UrsulaKapitel 4

Rock BottomKapitel 5

Der rote FadenKapitel 6